Gefangen im rechten Widerspruch

Debattenbeitrag

Wer allein die Links-Rechts-Brille aufsetzt, um den neusten Reformversuch in der EU-Asylpolitik politisch einzuordnen, der sieht nur die Hälfte. Zudem bleibt die Konfliktdynamik unsichtbar, die Mitte-Links-Regierungen seit Jahren daran scheitern lässt, mithilfe von Zugeständnissen an die rechten Kräfte ein einheitliches Asylsystem zu schaffen.

Porträt von Emanuel Herold

Italiens größte Tageszeitung La Repubblica warf der Regierung Meloni in ihrer Ausgabe vom 9. Juni 2023 vor, „nicht ein einziges Zugeständnis erzielt“ zu haben und „mit leeren Händen“ nach Hause zurückgekommen zu sein. Diese vernichtende Kritik bezieht sich auf den am Vortag erzielten Kompromiss in der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS).

Huch? Waren die neusten Ergebnisse zur europäischen Asylpolitik nicht ein großer Triumph der europäischen Rechten? Ein Ausverkauf europäischer Werte zugunsten der Festung Europa? Hatten Meloni & Co nicht ganze Arbeit geleistet?

Wer allein die Links-Rechts-Brille aufsetzt, um diese Reform politisch einzuordnen, der sieht nur die Hälfte. Und er bzw. sie versteht nicht, warum seit Jahren die Versuche moderater Regierungen scheitern, mit Zugeständnissen an die rechten Kräfte ein einheitliches Asylsystem zu schaffen. Das Entscheidende an dem letzten Satz ist, diese Diagnose sehr buchstäblich zu begreifen: Die EU scheitert daran, überhaupt irgendein Asylsystem zu etablieren. Sie ist noch nicht einmal in der Lage, ein sehr restriktives und, moralisch betrachtet, inhumanes System zu etablieren. Es gibt, rein funktional betrachtet, seit Jahren schlicht und ergreifend kein einheitliches Asylsystem. Der mit riesigem politischem Erpressungspotenzial ausgestattete Türkei-Deal, die teure Dauerrekrutierung der so genannten lybischen Küstenwache und die Inflation illegaler Pushbacks von Ceuta bis Velika Kladuša sind Ausdruck dafür. Die EU erreicht also mit ihrer Asylpolitik in politischer, ökonomischer und rechtlicher das Gegenteil dessen, was sie in allen Politikfeldern eigentlich immer erreichen will – Souveränität, Kosteneffizienz und Rechtssicherheit.

Wie ist das alles nur möglich?

Der Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung liegt zumeist auf den Außengrenzen und dem, was sich dort abspielt. Das ist einerseits völlig nachvollziehbar – dort werden Menschenrechte verletzt, Standards von Rechtsstaatlichkeit unterlaufen und Tausende von Todesopfern in Kauf genommen. Andererseits führt das zu einer Unterschätzung der Bedeutung, die der Aspekt des Verteilungsmechanismus in der politischen Dynamik hat. Wichtig dabei ist, dass beide Probleme – Regulierung der Außengrenzen und Verteilungsmechanismus – unterschiedliche Konfliktdynamiken in der EU bedienen.

Beim Thema Außengrenzen ringt man u.a. ums Asylrecht, Unterbringungsstandards und die Legitimität von Gewalteinsatz. Die Positionierungen im politischen Feld, die sich an diesen Aspekten abarbeiten, lassen sich vergleichsweise gut im Links-Rechts-Spektrum abbilden. Beim Thema Verteilungsmechanismus ist das nicht der Fall – dort folgt der Konflikt einer geografischen Logik, aktuell insbesondere repräsentiert von Italien einerseits und Polen andererseits. Das bedeutet: Es stehen sich innerhalb des rechten Lagers der europäischen Regierungen Kontrahenten mit widersprechenden Interessen gegenüber, die sich aus ihrer geografischen Lage in Europa und damit ihrer unterschiedlichen Betroffenheit von Fluchtbewegungen ableitet.

Ich vereinfache: Eine Giorgia Meloni will unbedingt einen verbindlichen Verteilungsschlüssel, der eine größtmögliche Zahl von Geflüchteten umfasst, die dann nicht in ihrem Land bleiben oder an den Grenzen mit viel Aufwand zurückgewiesen werden müssen – schließlich landen seit Jahrzehnten kontinuierlich, und zahlenmäßig zunehmend, Geflüchtete an Italiens Grenzen mit dem Wunsch nach Aufnahme. Ein Mateusz Morawiecki hingegen will so einen Schlüssel gar nicht – schließlich sucht die übergroße Zahl von Geflüchteten nicht den Weg nach Polen und kommt dort auch eher selten auf dem Weg zu anderen Fluchtzielen vorbei. Und wenn doch, dann nur durch eine grausame Anomalität wie einen russischen Eroberungskrieg im Nachbarland Ukraine.

Es gibt also in Europa jene Staaten, wo regelmäßig Geflüchtete in großer Zahl ankommen, und jene, wo das nicht der Fall ist. Beide Gruppen von Staaten werden von rechten Regierungen geführt, die aus innenpolitischen Gründen nicht von ihrer Position zum Verteilungsmechanismus abrücken können. Dieser rechte Widerspruch ist es jedoch, der seit 2015 sämtliche Versuche, ein einheitliches Asylsystem zu schaffen, scheitern lässt.

Die wiederholten Versuche scheitern nicht an der Frage der Regulierung der Außengrenzen, denn diesbezüglich sind die gemäßigten Regierung im Laufe der Jahre auf fast alle Forderungen der europäischen Rechten eingegangen – man siehe sich die aktuelle „Reform“ an. Und dennoch erklärt die polnische Regierung einen Tag später, sie fühle sich nicht an diesen „absurden“ Mechanismus gebunden, und die italienische Regierung wird zu Hause von der Tagespresse ausgeschimpft. Erstaunlich ist darüber hinaus, dass zeitgleich die gemäßigten Kräfte – wie die deutsche Ampel oder Merkels Große Koalitionen zuvor – nun ihrerseits versuchen, die schmerzhaften Zugeständnisse in der Außengrenzenkontrolle zu verteidigen, indem sie darauf verweisen, dass endlich es eine europäische Lösung gebe! Endlich ein einheitliches Asylsystem! Man gehe gemeinsam voran!

Falls Sie, liebe Leser*in, die Berichterstattung verfolgten und lasen, dass nun jährlich 30.000 Menschen nach dem neu vereinbarten Mechanismus verteilt werden sollen, haben Sie bestimmt auch gestutzt. Zurecht: Seit 2014 lag allein die Zahl der Asylanträge, die innerhalb eines Jahres in der EU gestellt wurden, nur einmal unter 600.000. Im Jahr 2015 hatten sich die Regierungen in größter Not noch auf die Verteilung von 120.000 Menschen verständigt. Diese Zahl wurde von EU-Asylgipfel zu EU-Asylgipfel im Laufe der Jahre immer kleiner. D.h. in der Frage des Verteilungsmechanismus hat man mittlerweile eine Position gefunden, die aus italienischer Sicht eigentlich völlig inakzeptabel ist, aber faktisch akzeptiert wurde. Und dennoch steigt Polen, zusammen mit Ungarn, direkt am nächsten Tag aus dem gefassten Beschluss aus. Weitere Regierungen, die ebenfalls gegen die neuste „Reform“ gestimmt hatten, murren auch schon wieder.

Damit lässt sich, ganz empirisch, zweierlei festhalten: 1) Mit der politischen einseitigen Auflösung der Konflikte um die Außengrenzenkontrolle in Richtung rechtes Lager lässt sich der innerrechte Widerspruch nicht auflösen. 2) Der innerrechte Widerspruch ist nicht aufzulösen – es gibt nichts, was Italien oder auch Griechenland hinsichtlich des Verteilungsmechanismus noch akzeptieren könnten, nichts, worauf sich Polen und Ungarn überhaupt einlassen würden. Die große Einigung beim nächsten Gipfel, wenn der Verteilungsmechanismus nur noch 10.000 Menschen umfasst? Sehr unwahrscheinlich.

Der ebenfalls bedeutsame Dauerstreit um die Kosten für die Außengrenzenkontrolle folgt derselben rechten Konfliktlogik: Italiens Postfaschist*innen würden ja einfach finanzielle Zuschüsse für die Unterhaltung eines sehr restriktiven Systems – selbstredend nicht etwa für Seenotrettung – nehmen. Aber die Nationalist*innen auf den polnischen und ungarischen Regierungsbänken wollen sich gar nicht freikaufen. Bei der Verteilung von Geld für eine streng restriktive Asylpolitik fehlt es unter Europas Rechten an dem erforderlichen Minimum von transnationaler Solidarität – wie könnte es bei Nationalist*innen auch anders sein.

Dieser Widerspruch im Lager der europäischen Rechten sorgt also sowohl dafür, dass die EU nun so weit ist, an ihren Außengrenzen Familien mit Kindern monatelang in Asylzentren festzuhalten, als auch dafür, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem weiterhin alles ist, aber kein System.

Aus diesem Tiefpunkt europäischer Asylpolitik können zwei politische Konsequenzen abgeleitet werden für all jene, die an einem einheitlichen und humanen Asylsystem interessiert sind: 1) Die eigenen Positionen zur Außengrenzenfrage umfassend zugunsten der Rechten zu räumen, führt nicht zum Ziel, sondern lediglich zum Verlust politischer Glaubwürdigkeit und damit zur Stärkung des politischen Gegners. 2) Die Lösung der europäischen Asylproblematik wird nicht auf europäischer Ebene stattfinden können, sondern nur auf der Nationalen nationaler – und zwar durch Abwahl der rechten Regierungen in Italien und Polen. Aufgrund ihrer geografischen Lage und ihres politischen Gewichts kommt es, ceteris paribus, auf diese beiden Staaten an.

Das zentrale Hindernis, aus diesen Erkenntnissen erfolgreiche Mitte-Links-Politik im Rahmen der GEAS zu generieren, besteht in der Asymmetrie des politischen Kampfs. Eine Mitte-Links-Asylpolitik kann man nur machen, wenn sich die Mehrheit der Staaten im Europäischen Rat – und darunter alle relevanten, also definitiv auch Italien und Polen – tatsächlich auf eine systematische und verbindliche Lösung verständigen. Rechte Politik funktioniert hingegen auch vor dem Hintergrund inhumaner Willkür: Giorgia Meloni wird ihre Anhänger*innen damit trösten, dass an den Außengrenzen weiterhin größtmögliche Härte gezeigt wird, um dem offenkundigen Chaos der europäischen Asylpolitik Herrin zu werden.

Es gibt also in der Außengrenzenfrage und in der Verteilungsfrage nicht nur verschiedene Konfliktlogiken, sondern auch einen rechtsdrehenden Feedback-Loop: Solange es aufgrund fehlender Verbindlichkeit bei der Verteilung kein einheitliches System gibt, funktioniert die Brutalisierung der Lage an den Außengrenzen als politischer Kompensationsmechanismus für nationalistische Regierungen.

Solang Europa im Kern nationalstaatlich organisiert ist und auch mehrheitsgesellschaftlich so tickt, gelingt der Ausbruch aus dem rechten Widerspruch und seinen Folgen nur durch einen Wandel gesellschaftlicher Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten. Dieser Wandel muss sich in nationalen Wahlen manifestieren und damit andere Beschlüsse und Verbindlichkeiten im Europäischen Rat ermöglichen. The Revolution will be boring. Was auf diesem Weg nicht hilft, ist, dass Mitte-Links-Regierungen immer weiter ihre politischen und humanitären Standards opfern und damit ihre Glaubwürdigkeit verspielen, während andere am Spielfeldrand von einer Welt der offenen Grenzen fabulieren, deren Unterstützung durch eine gesellschaftliche Mehrheit noch weiter entfernt ist als ein einheitliches europäisches Asylsystem von den verrohten Zuständen dieser Tage.